Marvin Schulz

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Dein Ärger, nicht mein Problem – Wenn Eigenverantwortung zur Ausrede wird.

Auf meinen letzten Newsletter folgte eine Welle positiver Reaktionen. Danke dafür! Viele von euch haben geschrieben, dass ihnen der Text aus der Seele gesprochen hat: Immer mehr Menschen nutzen Authentizität als Freifahrtschein für Unverbindlichkeit.

„Fühl unser Treffen jetzt leider nicht mehr. Sorry, Dear!“

Und wenn wir das ansprechen?

„Das ist dein Ärger, nicht mein Problem.“

Eigenverantwortung als Ausrede – und das Ende jeder Diskussion.

Die Falle des eisernen Spiegels

Wir leben in Zeiten des psychologischen Spiegels:

„Oh, du hast ein Problem mit meinem Verhalten? Dann sieh dir doch deinen Trigger an und arbeite an deinem Ärger.“

Kapow. Ende der Diskussion.

Ich wünschte, das wäre nur ein Beispiel aus Workshops. Aber ich habe diesen Satz – oder Variationen davon – selbst oft zu meiner Frau gesagt. Die Botschaft dahinter?

„Komm du erstmal über deine Emotionen hinweg – dann sehen wir weiter.“

Autsch.

Ja, Menschen können über ihre Trigger hinwegkommen.
Ja, Menschen sind für ihre Emotionen verantwortlich.

Aber wenn wir das nutzen, um Feedback abzuwehren und Beziehungsarbeit komplett dem anderen zuzuschieben, zerstören wir das „Wir“.

Von Fremdverantwortung zur Beziehungsflucht

Woher kommt diese Tendenz?

Ich kann hier nur aus meinem Leben sprechen:

In meiner Kindheit wurde ich – wie viele andere – für die Gefühle meiner Mutter verantwortlich gemacht:

„Mama ist traurig, weil du böse warst.“
„Du machst Mama so glücklich.“

Ich habe früh gelernt:

Ich muss mich anpassen, damit andere sich besser fühlen.

Deshalb war es für mich später essenziell zu verstehen:

✔ Emotionale Prozesse gehören zu den Menschen, die sie erleben.
✔ Ärger ist kein persönlicher Angriff.
✔ Ich muss mein Verhalten nicht ändern, nur weil jemand sauer ist.

Das war befreiend. Aber: Viele bleiben genau hier stehen – oder rutschen ins andere Extrem:

„Dein Ärger über mich sagt 100 % über dich aus. 0 % über mich. Ich werde mich daher nicht ändern.“

Vielleicht – aber nur vielleicht – haben Menschen emotionale Reaktionen auf unser Verhalten, weil da etwas für uns zu lernen ist.

Radikale Ehrlichkeit heißt nicht, immer den Ball beim anderen zu lassen

In Radical Honesty Workshops liegt viel Fokus auf:

„You get over it.“

Ja, eine wertvolle Fähigkeit – und für viele ein echter Durchbruch: zu lernen, dass ich über Ärger hinwegkommen kann, ohne dass sich die Welt für mich ändern muss.

Doch wenn wir andere ins „darüber hinwegkommen“ drängen, um selbst keinen Schritt zu machen, gerät die Beziehungswaage aus dem Gleichgewicht. Und dann mahnen wir andere zur Eigenverantwortung, während wir uns der eigenen geschickt entziehen.

Dann wird es bequem:

📌 „Ich bin, wie ich bin – und wenn dich das verletzt, musst DU damit umgehen.“
📌 „Ich ändere mich nicht – aber DU darfst dich mit deinem Ärger auseinandersetzen.“
📌 „Wenn DU nicht bereit bist, mit mir ehrlich zu sein, dann ist das DEIN Thema.“

Und plötzlich liegt die ganze Verantwortung beim Gegenüber.

Im schlimmsten Fall wird daraus eine Rechtfertigung für Rücksichtslosigkeit:

„Sie kann sich ja ärgern und darüber hinwegkommen, wenn ihr mein Verhalten nicht passt.“

Das kraftvolle „Wir“ liegt in der Mitte

Starke Beziehungen brauchen auf beiden Seiten die Fähigkeit, über Ärger hinwegzukommen, zu vergeben und die eigenen Emotionen zu bearbeiten.

Aber das alleine reicht nicht.

Wir müssen auch bereit sein, unser Verhalten zu reflektieren – und es anzupassen, wenn es andere verletzt oder immer wieder ärgert.

Hier liegt für viele das größte Wachstumspotenzial: Wenn aus einer kindlichen Reaktion eine bewusste Wahl wird. Eine Wahl, die nicht aus Schuld oder Unterwerfung kommt, sondern aus Mitgefühl und echtem Interesse am „Wir“.

Aber wie schaffen wir es, uns in diesem Prozess nicht selbst zu verlieren?
Nicht wieder in alte Anpassungsmuster zu rutschen?
Nicht erneut in blinde Unterwerfung zu landen?

Das sind die großen Fragen. Und leider gibt es darauf keine einfachen Antworten.

Die Einladung zur echten Veränderung

In meiner Beziehung hat sich vieles erst verändert, als ich aufgehört habe, die Vorwürfe meiner Frau nur als „ihren Prozess“ zu sehen.

Wirkliche Veränderung begann, als ich mir genau die Kritik zu Herzen nahm, die ich vorher gerne als „ihren emotionalen Prozess“ abgetan hätte. Und erst durch diesen Schritt war sie dann bereit, ihre Emotionen weiter anzusehen und loszulassen.

„Mach du erst deine emotionale Arbeit. Dann sehen wir weiter.“

Klappt nicht.

Aber vielleicht sind Menschen ja bereit, ihren Teil der Arbeit zu machen, wenn wir den ersten Schritt gehen – und nicht sofort den Spiegel rausholen?