Gut und Böse – nur mentale Konzepte?
Vor ein paar Jahren saß ich in Kolumbien bei meinem Taita am Feuer. Wir sprachen über das Leben, den Tod und die unsichtbaren Fäden, die alles verbinden.
Irgendwann sagte er:
„Die Grundlage von allem ist ein Urkonflikt zwischen Gut und Böse. Und unsere Aufgabe ist es, zu wählen.“
Ich wollte widersprechen.
„Gut und Böse?“, dachte ich. „Lebt Taita etwa noch in der Dualität?“
Ich hatte einige Jahre in der westlichen Spiritualitäts-Bubble hinter mir und glaubte, über solche Kategorien hinausgewachsen zu sein.
„Aber Taita, ist nicht alles nur Erfahrung? Ist nicht Gut und Böse nur eine Bewertung des Verstandes, die uns gefangen hält?“
Er sah mich an und lächelte.
„Ja, das kannst du dir einreden. Aber du weißt es besser.“
Er hatte recht.
Denn während ich mich in diesen „höheren“ Gedanken bewegte, lebte ich in einer Realität, die das Gegenteil zeigte: Ich war Jahre zuvor mehrere Monate den Drogen verfallen, benutze Frauen für meinen Selbstwert und traf Entscheidungen, die mich aushöhlten – und sagte mir trotzdem, dass es „nur eine Erfahrung“ sei.
Doch tief in mir wusste ich: Das ist eine Lüge.
Wenn Spiritualität zur Ausrede wird
„Gut und Böse sind nur mentale Konzepte.“
„Es gibt kein Richtig und Falsch.“
„Alles ist nur Energie, die fließt.“
Wir alle haben solche Sätze gehört – vielleicht haben wir sie selbst geglaubt.
Und ja, für manche Menschen kann es ein sinnvoller Zwischenschritt sein, diese Ideen zu erkunden:
🔹 Für Menschen, die ihr Leben lang von Moral und Regeln erdrückt wurden.
🔹 Für Menschen, die jedes Handeln erst durch die Linse von Schuld oder Scham betrachten.
🔹 Für Menschen, die vergessen haben, dass hinter Konzepten eine direkte, gelebte Erfahrung steht.
In solchen Fällen kann es befreiend sein, für eine Zeit lang alles als „nur eine Erfahrung“ zu betrachten. Mehr zu fühlen. Weniger zu bewerten.
Aber diese Phase ist nicht das Ziel.
Ja, wenn du im reinen Bewusstsein der unbedingten Liebe ruhst, wenn du in der tiefsten Meditation sitzt und dich als reines Gewahrsein erlebst, dann mag alles jenseits von Kategorien sein.
Aber Hand aufs Herz: Lebst du wirklich dort?
Und selbst Menschen, die wirklich in diesem Zustand reinen Gewahrseins sind, würden nicht wahllos handeln.
Die meisten von uns sind tief in dieser Welt verstrickt, mit all ihren Konsequenzen, all ihren Wirkungen. Und in dieser Welt – in der wir lieben, leiden, wählen und Verantwortung tragen – macht es einen Unterschied, was wir tun.
Denn wenn wirklich alles nur eine Erfahrung wäre – wenn Gut und Böse einfach nur Konstrukte wären – warum erzählen dann fast alle großen Geschichten der Menschheit von genau diesem Kampf?
🔹 Herr der Ringe – der ewige Konflikt zwischen Licht und Schatten.
🔹 Star Wars – der innere und äußere Kampf zwischen der hellen und der dunklen Seite.
🔹 Die Tribute von Panem – Katniss Everdeen gegen das totalitäre Kapitol.
Warum taucht diese Spannung immer wieder auf?
Vielleicht, weil sie real ist.
Vielleicht, weil tief in uns eine Wahrheit schlummert, die unser Verstand nicht einfach wegphilosophieren kann.
Die gefährlichste Illusion? Zu glauben, dass nichts eine Konsequenz hat
Ich verstehe, warum viele sich von Konzepten wie Gut und Böse lösen wollen. Wir wurden mit diesen Ideen moralisiert, mit Regeln vollgestopft, mit Schuld und Angst erzogen.
Kein Wunder, dass wir diese alten Konzepte abschütteln wollen.
Wir wollen raus aus der Enge, rein in die Freiheit.
Wir wollen – wie Rumi es sagt – an diesen Ort jenseits von Richtig und Falsch. Doch sollten wir nicht den Fehler machen, im persönlichen Befreiungsprozess unserer Erziehung der grundlegenden Dynamik von Gut und Böse die Validität zu entziehen.
Denn genau hier ist die Gefahr:
Die beste Lüge, die das Böse je verbreitet hat, war, uns davon zu überzeugen, dass es nicht existiert. Wir frei sind, alles zu machen, was wir wollen – ohne dass es Konsequenzen hat.
Und damit meine ich kein biblisches Höllenfeuer. Keine höhere Macht, die über uns richtet.
Sondern das ganz Alltägliche:
🔹 Die Erosion von Werten.
🔹 Die Aushöhlung von Integrität.
🔹 Die schleichende Gleichgültigkeit gegenüber dem, was uns und andere verletzt.
Was ist „Gut“ – jenseits der Moral?
Wenn ich hier von Gut spreche, dann nicht im Sinne religiöser Vorschriften oder gesellschaftlicher Regeln. Nicht aus dem Wertesystem des Verstandes, sondern aus einer tieferen Intelligenz, die in uns lebt.
🔹 Gut ist das, was uns verbindet.
🔹 Gut ist das, was Klarheit, Präsenz und Liebe bringt.
🔹 Gut ist das, was den Schleier zwischen uns und der Welt lüftet.
Und Böse?
🔹 Das, was uns weiter voneinander trennt.
🔹 Das, was unser Ego füttert und unsere Verbundenheit erstickt.
🔹 Das, was in uns und anderen Leiden vergrößert.
In alten Traditionen spricht man von einer natürlichen Weisheit, die in allem Leben wohnt. IFS nennt diese Weisheit das Selbst.
Der Begriff Sünde, der bei vielen heute Abwehr auslöst, meint eigentlich das Zielverfehlen. Das Ziel ist das Erleben der Einheit. Sünde sind Handlungen, die das Gefühl der Trennung fördern. Gier, Hass, Neid.
Du weißt, wann du in deinem tiefsten Inneren gegen dich und das Leben handelst.
Und wenn du mit dieser natürlichen Weisheit wenig in Kontakt bist, kann es hilfreich sein, deine eigene Geschichte aufzuarbeiten – mit den verletzten und ärgerlichen Anteilen zu arbeiten, die gerne die Sicht trüben.
Die Einladung an dich
Vielleicht stimmt es:
Auf der höchsten Ebene gibt es kein Gut und Böse.
Aber wir leben nicht nur auf der höchsten Ebene.
Wir leben hier.
Mitten im Chaos, mitten in Beziehungen, mitten im Leben, das uns mit jeder Entscheidung formt. In dem unsere Handlungen Kräfte in Bewegung setzen, die irgendwann Früchte tragen werden.
Der größte Fehler, den wir machen können, ist – wie eine Workshopteilnehmerin es so treffend sagte – so zu tun, als wären wir weiter, als wir eigentlich sind.
Und genau deshalb ist die Frage nicht:
➡ Gibt es Gut und Böse?
Sondern:
➡ Wie beeinflussen meine Handlungen die Welt – und mich selbst?
➡ Stärke ich mit meinen Entscheidungen Verbindung – oder Trennung?
➡ Diene ich dem, was das Leben fördert – oder dem, was es aushöhlt?
Denn wenn alles nur Erfahrung wäre – wenn wirklich nichts Konsequenzen hätte – warum leidest du dann unter deinen eigenen Entscheidungen?
Warum hinterlassen manche Handlungen Klarheit – und andere ein Gefühl der Leere?
Vielleicht, weil es eben doch eine Bedeutung hat.
Zum Abschluss
Mein Taita in Kolumbien sagte damals noch einen Satz:
„Niemand weiß, was passiert, wenn wir sterben. Aber wenn unsere Handlungen wirklich Früchte tragen – dann ist es klug, die lange Sicht zu wählen. Dann ist es klug, das Gute zu wählen.“
Vielleicht.
Vielleicht ist es klüger, nicht davon auszugehen, dass nichts zählt.
Sondern so zu leben, als würde es.