Wann wird Self-Care zur Selbst-Obsession?
Vor kurzem ist der Großvater meiner Frau verstorben. Ich war mitten in einem achttägigen Workshop, als ich die Nachricht erhielt: Die Beerdigung ist für das Wochenende danach angesetzt – genau auf mein lange geplantes Self-Care-Wochenende.
Ich wollte nicht hin.
„Ich kannte ihn doch kaum.“
„Es ist nicht meine direkte Familie.“
„Es fühlt sich nicht authentisch an, wenn ich hinfahre.“
„Ich muss mich um mich kümmern.“
„Ich brauche das Wochenende zur Erholung.“
Kurz gesagt: Die Beerdigung passte mir nicht in den Kram.
Ich blieb mit diesen Gedanken für eine Weile sitzen. Spürte meinen Körper und sah, aus was für einer Energie diese Ideen stammten. Dann wurde ich traurig:
Wenn Self-Care dazu führt, dass ich mich von den wichtigen Ritualen des gesellschaftlichen Lebens entferne – dann ist da wohl etwas schiefgelaufen.
Self-Care oder Selbsttäuschung?
Ja, es gibt Tage, an denen es gut ist, sich zurückzuziehen.
Alleine in die Sauna zu gehen.
Ein Wochenende ohne Verpflichtungen zu haben.
Aber wo sind die Grenzen?
Wann beginnen wir, unser Ego zu füttern, statt unsere Energie zu erneuern?
Wann nutzen wir Self-Care als Deckmantel zur Vermeidung unbequemer Dinge?
Ich weiß aus Erfahrung: Der Grad ist schmal.
Self-Care kann schnell zur isolierten Selbstbeschäftigung werden, zu einer Obsession mit der Idee des eigenen Wohlbefindens – getrennt vom Rest der Welt.
Und irgendwann finden wir uns in einem Zustand wieder, in dem wir glauben:
➡ Ich muss alles alleine lösen.
➡ Mein Wohlbefinden ist das wichtigste Ding im Universum.
➡ Meine Grenzen sind heilig – und dürfen niemals herausgefordert werden.
Doch was, wenn genau diese Einstellung uns schwächt, statt nährt?
Wenn Self-Care uns in die Hyperindividualität treibt
Ich sehe es immer wieder:
Menschen, die zu Prozess-Junkies werden.
Jede Unstimmigkeit wird analysiert. Jeder Konflikt durchtherapiert. Jedes unangenehme Gefühl als persönliches Thema aufgefasst, das erst einmal „gehalten“ werden muss.
Das macht auch Sinn, wenn wir uns jahrelang übergangen und im schwammigen Wir verloren haben.
Doch plötzlich geht es nur noch um:
🔹 „Ist das jetzt gerade das Richtige für mich?“
🔹 „Fühle ich mich dabei sicher?“
🔹 „Habe ich genug Kapazität für diese Begegnung?“
Alles gute Fragen.
Aber wenn unser Fokus ständig auf mich und mein mögliches Unwohlsein eingestellt ist, werden wir immer empfindlicher und störanfälliger. Immer mehr Türchen öffnen sich. Immer mehr innere Kinder wollen „gehalten“ werden – alleine zu Hause. Gleichzeitig distanzieren wir uns immer mehr von der Gruppe und verlieren die Erdung in der menschlichen Gemeinschaft.
Unsere Welt wird immer kleiner. Unsere Perspektive verengt sich.
Wir drehen uns zunehmend um die Idee unseres getrennten Ichs – als wäre es das Zentrum des Universums. Alles wird zur persönlichen Erfahrung, jeder Reiz zur Einladung zur Selbstanalyse, jeder soziale Kontakt zur potenziellen Bedrohung unserer „Energie“.
Und irgendwann stehen wir an einem Punkt, an dem wir glauben, dass unser Wohlbefinden nur noch aus uns selbst heraus entstehen kann – während wir in Wahrheit den Zugang zu den größten regenerativen Kräften des Lebens verlieren:
Gemeinschaft, Austausch und gemeinsame Erlebnisse.
Ohne diese wird Self-Care nämlich gerne schnell zur bequemen Erlaubnis für genau die Dinge, die uns auf lange Sicht schaden und noch weiter in die Einsamkeit treiben.
📌 Ein Serienmarathon statt echter Erholung.
📌 Exzessives Essen oder Social Media statt echter Verbindung.
📌 Endlose Selbstreflexion und ein Suhlen in der Vergangenheit.
Was hätte ich gemacht, wenn ich nicht zur Beerdigung gegangen wäre?
Vermutlich über mein Leben nachgedacht, Nachrichten gelesen und alleine zu Hause Gitarre gespielt.
Was für mich sehr aufschlussreich war:
Nach der Beerdigung hatte ich wochenlang gefühlt mehr Energie als in den Wochen davor.
🔥 Trotz 14 Stunden Reisezeit in zwei Tagen.
🔥 Trotz der emotionalen Schwere des Moments.
🔥 Trotz meines Widerstands, überhaupt hinzugehen.
Wie kann das sein?
Das weiß ich nicht. Es ist ein Mysterium.
Vielleicht, weil ich mich nicht in mein eigenes Wohlbefinden eingekapselt und über mein Leben nachgedacht habe? Weil ich nicht alleine meine Energie recyclen musste und mich als Mittelpunkt der Welt gesehen habe?
Die Kraft der Rituale
Wir leben in einer Zeit, in der das Individuum im Zentrum steht.
Wir glauben, unsere innere Balance stets alleine herstellen zu können – durch Meditation, Reflexion, Therapie, Smart-Watches. Aber in vielen Kulturen wäre das undenkbar.
Dort gibt es keine Heilung ohne Gemeinschaft.
Ob in indigenen Stämmen, traditionellen Dorfgemeinschaften oder alten Weisheitslehren:
Die Vorstellung, dass ein Mensch sich von sich aus „zurechtrücken“ kann, ist dort fremd.
Denn dort weiß man: Der Mensch ist ein Beziehungswesen.
Dort ist nicht das Individuum das Zentrum – sondern das Wir.
Ich habe einmal gehört:
„Wenn jemand aus dem Gleichgewicht gerät, ist es auch die Aufgabe der Gemeinschaft, ihn zurückzuholen und zu balancieren – durch die Kraft der geteilten Erfahrung.“
Und genau das fehlt uns heute zunehmend in unserer hyperindividuellen Welt.
Denn oft findet wahre Selbstfürsorge nicht durch Isolation statt, sondern durch Verbindung, durch Zusammenhalt, durch Fürsorge für andere.
Bei der Beerdigung stand ich neben der Großmutter meiner Frau und sah, wie sie mit ihrer Trauer umging. Ihr Mann, nach über 60 Jahren Ehe verstorben. Unvorstellbar und doch so nah.
Ich nahm sie in den Arm. Ich hatte wohl doch mehr Energie zu geben, als ich vorher dachte.
Zu sehen, wie sehr sie sich freute, dass ich gekommen bin – hat mich genährt.
Mehr als jedes Wochenende allein in Berlin.
Mehr als jedes Buch über Psychologie.
Denn vielleicht liegt wahre Regeneration nicht in Rückzug.
Sondern darin, gemeinsam mit anderen durch das Leben zu gehen.
Vielleicht, weil wir nicht nur für uns selbst hier sind.