Wenn „Ich fühl’s nicht“ zur neuen Norm wird – Die Schattenseite der Authentizität

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Meine Frau, Pavla, und ich stehen zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit am Treffpunkt.

Dann kommt die Nachricht:

„Meine Pläne haben sich geändert. Ich fühl das Treffen nicht.“

Hhhmm.

Es scheint, als würde „Fühlst du es gerade?“ zur einzigen Entscheidungsgrundlage unseres sozialen Lebens werden. Es zählt nicht mehr, ob wir zugesagt haben, ob sich jemand auf uns freut oder ob eine Entscheidung bereits getroffen ist.

Hauptsache, es fühlt sich jetzt – in diesem Moment – richtig an.

Und wenn nicht?

Dann kommt die Last-Minute-Stornierung.

Go with the flow. Trust your feelings. Du schuldest niemandem etwas.

Und wenn sich jemand darüber ärgert?

Dann ist es „ihr Prozess“. Sie kann es ja sagen, wenn sie das triggert. Ich bin ja offen für Feedback – aber ändern werde ich deshalb nichts. Ich mach mein Ding. Du machst dein Ding.

Klingt authentisch. Oder doch eher egozentrisch?

Von der Aufopferung in die Hyperindividualität

Ich verstehe, warum viele so handeln.

Ich war selbst lange jemand, der sich zu allem verpflichtet hat.

  • Ich wusste nicht, dass es okay ist, meine Freundin nicht zu massieren, wenn ich selbst Schmerzen habe.

  • Ich dachte, es wäre normal, zu jedem Familientreffen zu erscheinen – unabhängig davon, wie es mir geht.

  • Ich war der Typ, der nach einer langen Partynacht noch alle nach Hause gefahren hat, während er selbst kaum noch die Augen offen halten konnte.

Ich war ein kompulsiver Aufopferer – mit viel verstecktem Ärger.

Als ich gelernt habe, dass ich mich nicht ständig für andere verausgaben muss, war das eine riesige Erleichterung. Das erleben viele, die zum ersten Mal spüren, dass sie Nein sagen dürfen. Für Menschen wie mich, die ihre Gefühle konstant übergangen haben, ist es ein wichtiger Schritt, sich zu erlauben, auch kurzfristig Pläne zu ändern – als eine neue Erfahrung.

Aber was passiert, wenn wir hier stehen bleiben?

Wenn Authentizität zur Unverbindlichkeit wird

Viele entdecken das Nein – und hängen darin fest.

Plötzlich geht es nur noch darum, was für mich richtig ist. Was ich jetzt gerade brauche.

  • Ich sage ab, wenn ich es nicht spüre.

  • Ich bleibe vage, um mich nicht festlegen zu müssen.

  • Ich tue nur, was mir guttut.

Und dann?

Dann wird das Leben immer individueller – aber auch immer einsamer. Denn wenn jeder nur noch auf sich selbst schaut und sich immer an erste Stelle setzt, was bleibt dann?

  • Freundschaften werden unverbindlich.

  • Beziehungen verlieren an Tiefe.

  • Verlässlichkeit wird zum Fremdwort.

Es ist paradox: Je mehr wir uns auf unsere eigene Freiheit konzentrieren, desto weniger bleibt vom „Wir“ übrig. Und unsere Gesellschaft war noch nie so frei wie heute – doch Einsamkeit ist eine der größten Krisen unserer Zeit.

Wenn wir nur noch tun, was sich gerade gut anfühlt, sind wir keine freien Menschen – wir sind Getriebene unserer Impulse.

Und noch schlimmer: Wir werden unzuverlässig.

  • Treffen werden abgesagt, weil ein neues Gefühl aufkommt

  • Gespräche werden abgebrochen, weil uns eine Unterhaltung plötzlich unangenehm ist.

  • Projekte werden fallengelassen, weil die anfängliche Euphorie verflogen ist.

Und das alles verkaufen wir uns selbst als Self-Care.

Die Einladung an dich

Das nächste Mal, wenn du kurz davor bist, eine Verabredung abzusagen oder dich aus einer Situation herauszuziehen, frage dich:

Tue ich das aus Klarheit – oder aus kurzfristiger Bequemlichkeit?

Denn manche der wichtigsten, tiefsten Momente im Leben entstehen nicht, weil du dich gerade danach fühlst. Sie entstehen, weil du dich entschieden hast, trotzdem da zu sein.

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Dein Ärger, nicht mein Problem – Wenn Eigenverantwortung zur Ausrede wird.

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Sieben Monate ohne Social Media