Wenn Workshops zur Alltagsflucht werden
Letztes Wochenende war eine Bekannte auf meinem Workshop.
Gestern habe ich sie zufällig vor einem Hotel getroffen – auf dem Rückweg von einem 4-Tage-Workshop. Heute hat meine Frau mit ihr telefoniert – sie war gerade unterwegs zu einem siebentägigen Retreat. Die beiden Wochen vor meinem Workshop?
Ebenfalls Workshops.
Und nach den nächsten sieben Tagen?
Geht’s direkt weiter – zum Folgeworkshop.
Ein Einzelfall?
Ich sehe diesen Trend immer öfter.
Menschen reisen zu Workshops, erleben tiefe Verbindung, machen transformative Erfahrungen.
Und dann? Dann geht’s zurück in den Alltag.
Und meistens passiert dort Folgendes:
Nach großer Expansion kommt eine Kontraktion.
Das scheint ein Naturgesetz zu sein – wie die Schwerkraft.
Außer… wir verhindern die Kontraktion.
Indem wir direkt die nächste Expansion einleiten.
Von einer Peak-Erfahrung zur nächsten.
Ich will’s kaum aussprechen, aber
… klingt das nicht ein bisschen wie Drogensucht?
Wann werden Workshops zur Alltagsflucht?
Bevor du dich jetzt von allen Workshop abmeldest:
Workshops können magische Orte sein, die genau das in sich tragen, was wir so oft vermissen:
Gemeinschaft, Sinn, Wachstum und Wahrheit. Gerade in Zeiten wie diesen verstehe ich jeden, der sich danach sehnt – und gerne auch öfter hingeht. Es ist schön, heilsam und oft wirklich hilfreich, die Vielfalt an Formaten zu erleben und neue Erfahrungen zu machen.
Es gibt Workshops, durch die ich mein Leben nachhaltig verbessert habe.
Du ahnst es schon – es folgt ein Aber:
Wann wird das Retreat zur Parallelwelt – und der Alltag zur Störung?
Wann entfernen wir uns durch noch mehr Workshops von der eigentlichen Gemeinschaft – den Menschen, mit denen wir leben? Und wann verlieren wir uns in der Selbstfindung?
Gerade weil Workshops so kraftvoll sind, kann ein altes Muster ins uns anspringen: das immer mehr wollen. Und dann konsumieren wir Transformationserfahrungen, statt zu wachsen.
Workshop-Konsumismus
In den letzten Jahren habe ich viele solcher Gespräche gehört:
„Warst du schon bei diesem Retreat?“
„Ja, direkt nach dem von so und so – war wirklich intensiv.“
„Und das andere Format, das alle gerade machen – hast du das auch schon ausprobiert?“
„Klar. Ich wollte einfach mal alles kennenlernen, was mich ruft.“
Und klar, das ist durchaus legitim.
Aber manchmal wirkt es, als würden wir Katharsen und Initiierungen sammeln wie Trophäen – oder wie ich früher Nike-Schuhe. Ein Format nach dem anderen, aber nie wirklich in Beziehung mit etwas. Dann haben wir viele Tools, viele Erkenntnisse, viel Gesprächsstoff – aber wenig, das im Alltag ankommt. Und noch weniger, das wirklich etwas verändert.
Und im schlimmsten Fall?
Werden Workshops & Retreats zu einer Happy-Bubble, während wir im normalen Leben immer weniger klarkommen – vor allem mit Menschen, die keine Workshops machen. Oder wir vermeiden, dort dranzubleiben, wo es schwierig wird. Oder eine konsequente Entscheidung zu treffen und ein schwieriges Gespräch zu führen.
tattdessen: noch ein Format, noch ein Durchbruch, noch eine Öffnung.
So wird die Suche zur elegantesten Form der Selbstvermeidung.
Die Kraft der Integration
Ich denke, das wichtigste an jedem Retreat ist nicht, was dort passiert – sondern das, was du danach damit machst. In deinem normalen, langweiligen Leben. Mit den Menschen, die das Leben dir an die Seite gestellt hat. Und wie du dort deine Community bereicherst.
Es ist wie bei Joseph Campbell’s Heroes Journey: Die Heldin hört den Ruf im Herzen, begibt sich ins Ungewisse, erhält dort nach dem Abenteuer ein Geschenk und kehrt dann in den Alltag zurück. Sie ist wieder am selben Ort. Aber nicht mehr dieselbe.
Die Rückkehr ist vielleicht der wichtigste Teil der Reise.
Bilbo ist auch nicht direkt zum nächsten Drachennest gereist.
Sondern zurück ins Auenland.
Für die Retreat-Heldenreise zeigt sich erst mit der Zeit, was sich wirklich verändert hat.
Das braucht bewusste Aufmerksamkeit – und vor allem: Kontakt mit der Realität deines Alltags.
Und genau dort entscheidet sich, ob das Erlebte wirkt.
Ein Freund von mir war für ein Jahr in Peru – und hat 100 (!) Ayahuasca-Zeremonien gemacht. In manchen Nächten sah er sich und seine Mutter, mit der die Beziehung schwierig war, glückselig im Sonnenuntergang entgegenspringen – vereint in Liebe. Für immer.
Das Erste, was passierte, als er zu Hause war?
Ein Streit mit seiner Mutter.
Zum Glück ist er nicht gleich zurückgeflogen.
Zum Abschluss
Ja, mach deine Retreats.
Solche Erfahrungen wie die meines Freundes sind wertvoll.
Sie zeigen, was alles möglich ist – und öffnen Türen.
Aber das Durchgehen … ist meistens leise.
Langsam. Und selten sexy.
Das sind Prozesse, die Zeit brauchen.
Und direkt die nächste Tür zu öffnen – noch eine Peak-Erfahrung zu jagen – sagt zum Leben: Es reicht nicht. Ich brauch mehr. Vielleicht ist das wenig wertschätzend gegenüber der Chance, die sich dir gerade gezeigt hat.
Denn am Ende kommt es nicht darauf an, wie viele Retreats oder Methoden du im Koffer hast.
Sondern in welcher Beziehung du zum aktuellen Moment stehst.
Und um offen und liebevoll zu sein, braucht es vielleicht gar nicht so viel, wie wir denken.
Sondern nur die Entscheidung, es wirklich zu sein.